Sustainable Innovations
Bakterien zum Tragen
Man nehme Hefe, Bakterien und gesüßten grünen Tee – nach einem Fermentationsprozess wird daraus biologisch abbaubares, widerstandsfähiges und hochflexibles Material. Wie das funktioniert? Mikroben spinnen Nanofasern aus bakterieller Zellulose auf eine Oberfläche. Sobald diese Schicht getrocknet ist, wird sie zu einem festen Material, das sich in den Eigenschaften sehr ähnlich zu Leder verhält. Die Dicke des Stoffs kann während des Wachstumsprozesses leicht angepasst werden: Je nach Dauer des Wachstums wird er entweder instabiler und dünner oder fester und dicker. Abhängig von der Stärke entstehen im Material verschiedene Nuancen und unterschiedliche Transluzenzen. Mit diesen Materialeigenschaften gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten: Im nassen Zustand kann beispielsweise eine Textur aufgetragen werden, die auch vollständig getrocknet noch sichtbar bleibt. Auch die Farbe des Stoffs kann aufgrund der hohen Absorptionsfähigkeit leicht verändert werden. Ausprobieren zahlt sich deshalb aus. In Experimenten mit Pflanzenfarben und Farbstoffen aus Fruchtabfällen ist eine Stoffkollektion mit bunten Farben, unterschiedlicher Lichtdurchlässigkeit und abwechslungsreichen Mustern entstanden.
Lebende Organismen, die umweltschonende Materialien produzieren – dahinter steht das Projekt „Biotic“ des Studios Lionne van Deursen aus Uden in den Niederlanden für Materialforschung und Produktdesign, das 2019 von der gleichnamigen Designerin ins Leben gerufen wurde. Durch verschiedene Experimente generiert das Team Einblicke in die unglaubliche Vielfalt neuer und biobasierter Materialien. Die Vorteile sprechen für sich: Für die Produktion des Materials sind nur lokale Ressourcen erforderlich und fürs Färben werden ausschließlich pflanzliche Mittel verwendet. Daraus ergeben sich nicht nur nachhaltige Materialien, sondern allem voran auch ein nachhaltiger Produktionsprozess.
„Das Ziel des Projekts ist es, nachhaltige Produkte aus Materialien zu entwickeln, die der Umwelt nicht schaden. So können wir Möglichkeiten für biologisch produziertes Material aufzeigen – von lebenden Mikroorganismen erschaffen, biologisch abbaubar, stark und hochflexibel.“
– Lionne van Deursen
Mehr Infos über SUSTAINABLE INNOVATIONS finden Sie in diesem Interview mit Simon Angel, Kurator des Sustainable Innovations Forum:
Interview über Pre-Creation, -Action und -Connection in unserer Branche >>
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Interview über Pre-Creation, -Action und -Connection in unserer Branche
Unser Ansprechpartner für die Entwicklungen, die wegweisend für unsere Branche sind? Simon Angel – Kurator der SUSTAINABLE INNOVATIONS, welche jede Saison auf der MUNICH FABRIC START vorgestellt werden. SUSTAINABLE INNOVATIONS bietet eine Plattform für spannende Jungdesigner, die außergewöhnliche Materialentwicklungen kreieren und die Textilwelt neu denken – mit diesen Insights sind Sie dem Markt immer einen Schritt voraus.
Hier geht’s zu einer Übersicht der SUSTAINABLE INNOVATIONS der letzten Saisons >>
Hey Simon, schön dich zu sehen. Wie geht’s dir?
Derzeit beschäftigen mich die Umstände, die auf die aktuelle Zeit zurückzuführen sind: Neben den primären Auswirkungen der Corona-Pandemie gibt es noch die Nebeneffekte auf die Gesellschaft als Ganzes, ebenso wie Schwierigkeiten für uns als Individuen. Jetzt gerade erreichen die persönlichen Auswirkungen der globalen Herausforderungen ihren Höhepunkt. Und ja, wann immer der Druck zu groß wird, müssen sich die Menschen (und die Gesellschaft) distanzieren, um sich selbst zu „retten“ und die Herausforderungen zu bewältigen. Im Moment führt dies zu neuen Realitäten, Ignoranz oder Verleugnung. Ich komme nicht umhin, mich zu fragen: Was ist hier gerade los? Und außerdem: Was ist überhaupt real und was nicht? Was ist die echte Realität? Und… neben den aktuellen Herausforderungen durch Covid und den Klimawandel gibt es vielleicht noch eine größere Fragestellung: Zuverlässigkeit.
Also müssen wir uns an die neue Realität anpassen. Was sind Ansätze, um dies zu meistern?
Aktuell gibt es, wie schon gesagt, zwei Schlüsselbegriffe, die wirklich wichtig sind: Realität und Zuverlässigkeit. Ich denke, wir sollten diese Worte wieder so verstehen, dass sie unser Bewusstsein tangieren. Wofür kämpfen wir wirklich? Was sind unsere wahren Probleme? Bewegende Themen sind die Übermengen an Plastik, Kleidung und Konsumgütern. Eine Folge des Konsumverhaltens – das eigentliche, grundlegende Problem liegt allerdings noch tiefer. Klar: Der Klimawandel, Konsum, Klamottenberge auf Deponien, Corona, Fake News – das sind alles Herausforderungen dieser Zeit. Es ist gut und wichtig, das Chaos, das daraus resultiert, zu beseitigen. Aber die Lösung kann nicht nur Aufräumen sein. Wir müssen tiefer gehen und uns fragen: Warum haben wir die Verbindung zu dem verloren, was wirklich real und wichtig ist? Wir sollten in all dem Inspirationen suchen, um etwas zu ändern, anstatt immer nur auf das Schlechte zu schauen.
„Wir müssen tiefer gehen und uns fragen: Warum haben wir die Verbindung zu dem verloren, was wirklich real und wichtig ist? Wir sollten in all dem Inspirationen suchen, um etwas zu ändern, anstatt immer nur auf das Schlechte zu schauen.“
Wie lässt sich dies Deiner Meinung nach erreichen?
Ich denke, wir müssen Vorsilben verändern. Nachdenken wird zu pre-denken. Recyclen zu pre-cyclen.
Gib diesem Gedanken mal etwas Raum. Es geht darum, zu pre-agieren statt zu reagieren: Wir müssen etwas Neues erschaffen, um den nächsten Generationen den Weg für eine bessere Zukunft zu ebnen. Nur auf Gegebenheiten zu reagieren wird niemals inspirierend sein. Auf toxische Umstände einzugehen und damit weiterzumachen kann niemals zu frischen, aufregenden oder neuen Impulsen führen. In dieser Zeit geht es darum, unsere Beziehungen zueinander neu zu gestalten. Vordenken, statt über die Vergangenheit nachzudenken. Wir können keine bessere Zukunft erschaffen, solange wir alte und schlechte Muster aufrechterhalten. Das betrifft die Wirtschaft, die Mode, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen.
Die Vorsilbe „Re“ in „Reagieren“ deutet darauf hin, dass wir auf etwas bereits Vorhandenes agieren. Doch dass, was schon vorhanden war, hilft uns nicht für eine neue Zukunft. Wir müssen pre-agieren, uns wiederverbinden und pre-kreieren. Um einen Wandel voranzutreiben, braucht es neue und frische Ideen, sonst wird das nichts. Lasst uns neue Pre-Beziehungen schaffen, um uns mit der zukünftigen Generation zu pre-connecten.
Schauen wir auf die diesjährigen Sustainable Innovations. Wo gibt es Parallelen zu dem Konzept Pre-Action?
Wir versuchen, uns immer auf die wahren Herausforderungen zu fokussieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Frage nach dem, was wir wirklich wollen, stellt sich immer wieder.
Ein allgegenwärtiges Ziel: Eine echte Person innerhalb einer guten Gesellschaft zu sein, die eng mit der Natur verbunden ist. Unsere Projekte zeigen, wie wir dieser Vorstellung einen Schritt näherkommen können – wie man pre-agieren kann, um etwas zu verändern.
Motorskins zeigt Lösungen dafür, wie man mit der Pre-Kreation von Bewegungen und Support schlank und aktiv werden kann.
Das Studio Panorama Fabrics pre-kreiert Sunkolor auf der Basis von Licht, was den Einbezug natürlicher Elemente ganzheitlich verkörpert.
Ein weiteres Beispiel dafür, von der Natur zu lernen, zu pre-agieren und die Natur als kollaborativen Partner zu sehen, zeigt Irene Purasachit mit ihrem Projekt Flower Matter.
Mit Innovationen wie diesen kann es uns gelingen, auf die wahren Fragen zu reagieren und echte Lösungen für die Probleme der nächsten Jahre zu pre-agieren. Diese und weitere SUSTAINABLE INNOVATIONS werden wir Ihnen in den kommenden Wochen im Detail hier auf unserem M/UNIQUE Blog vorstellen.
Eine Sneak Peak in unser E-Magazine:
Seaweed Design von Violaine Buet
Seaweed Design® von Violaine Buet
Am Anfang stand ihr Wunsch, mit einem natürlichen, lebendigen Material zu arbeiten. Die Wahl von Violaine Buet fiel intuitiv auf Seegras, die uralte Meerespflanze, die einen Teil der Landschaft ihrer Kindheit in der Bretagne ausmachte. Das übergeordnete Ziel ihrer Bemühungen: Ein innovatives Fachwissen über Algen zu entwickeln, um sie in Kunst, Haute Couture, Szenografie und Dekoration bis hin zu Visual Merchandising und industrieller Fertigung einzusetzen. Denn: Seegras kann vielfältig genutzt werden. Ob weben, färben, nähen, bedrucken, prägen, tuften, gravieren, flechten oder pressen – die Möglichkeiten scheinen schier unbegrenzt.
Mit ihrem handwerklichen Geschick als Designerin erkundet Violaine Buet die ästhetischen und technischen Eigenschaften des Materials, entwickelt natürliche Färbemethoden mit der Unterstützung von Experten für pflanzliche Färbung und Biopolymerforschern. Mit interdisziplinären Methoden verknüpft sie so Fachwissen mit Handwerk, inspiriert von Weber:innen, Lederverarbeiter:innen, Juwelier:innen, Schneider:innen, Siebdrucker:innen, Vergolder:innen und Glasermeister:innen. So entstehen nicht nur maßgeschneiderte Textilien aus den biologisch abbaubaren Algen, sondern darüber hinaus auch Wände, Landschaften und Installationen.
“It’s like writing a story with an inevitable factor of time. With seaweed I have to take into account seasons, species, tides, weight, smell, particularities, colour-fade, hydrophilicity and decomposition, all of which change with time. It’s about everything coming together in a kind of balance.”
Violaine Buet
Pre-Loved von Sarmite Polakova
Pre-Loved von Sarmite Polakova
Aus Alt mach Neu: Die Material- und Produktdesignerin Sarmite Polakova und die Designerin Mara Maizele haben mit ihrem Biotextil Pre-Loved ein völlig neues Textilkonzept erschaffen. Pre-Loved besteht aus gebrauchten Textilabfällen und natürlichen Bindemitteln. Die Designerinnen möchten mit dem Produkt das traditionelle Konzept von Stoffen infrage stellen und die Perspektive auf recycelte Mischfasern verschieben. Shoddy nennt sich das Material, das aus unverkäuflichen und nicht mehr tragbaren Kleidungsstücken hergestellt wird. Baumwolle, Polyester und Wolle: Shoddy besteht aus einer Vielzahl von Fasertypen, die in dem Recyclingprozess zu einer einzigen Masse zusammengeführt werden.
Eine weitere Besonderheit ist die hervorragende Isolierungseigenschaft von Shoddy. Das Biotextil kann für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt werden: im wärmenden Wintermantel, in der gemütlichen Couch oder in der gut isolierten Hauswand. Durch Farbseparation, kontrollierte Musterung und sogar natürliche Färbung sticht der Stoff auch durch einen einzigartigen Look hervor. Darüber hinaus werden die kurzen Fasern, die sich sonst nicht zum Spinnen von Garnen eignen, mit Biokunststoffen kombiniert, die die Fasern von innen heraus stärken und dem Material eine glatte, lederähnliche Oberfläche verleihen. Mit Shoddy entsteht eine ganz neue Art von Chemiefaser – Pre-Loved zelebriert diese neue Textilidentität, die eine neue Ästhetik mit sich bringt und das frühere Leben jedes getragenen Kleidungsstücks durch Farb- und Strukturnuancen hervorhebt.
“When textile waste meets bio-plastics and together they form a new leather-like material for future fashion applications.”
Sarmite Polakova
Fixing Fashion von Alicia Minaard
Kopieren erwünscht - Fixing Fashion by Alicia Minaard
Wissen teilen, Kleidung retten: 3,3 Jahre – das ist die durchschnittliche Lebensdauer eines Kleidungsstückes. Mit guter Pflege und ein paar Tricks kann Kleidung noch viel länger erhalten bleiben. Die digitale Plattform Fixing Fashion hat es sich zum Ziel gemacht, Interessierten dabei zu helfen, ihre Lieblingsteile zu pflegen, selbst zu reparieren oder neu zu verwerten. Auf Fixing Fashion finden Nutzer:innen Ideen, Tipps und Anleitungen, um getragene Kleidung mit kreativen Ansätzen zu schützen. Dafür hat sich die Designerin Alicia Minaard gemeinsam mit der Organisation One Army über zwei Jahre lang vorbereitet: In Interviews, Workshops und Exkursionen hat das Netzwerk um Minaard weltweit die besten Praktiken und Methoden zum Recyceln und Reparieren ausrangierter Kleidung recherchiert – und stellt diese nun kostenlos zur Verfügung. Entstanden ist eine Kollektion, die man nicht kaufen kann, aber nachahmen oder als Inspirationsquelle für eigene Fixing Looks nutzen soll.
Doch dem Team von Fixing Fashion geht es nicht nur um die Bereitstellung von Informationen. Die Initiator:innen des Projektes möchten vielmehr eine Community aufbauen, die sich austauscht und sich dabei unterstützt, Kleidung länger zu erhalten – und damit nicht zuletzt auch Textilabfälle einspart. Durch die sorgfältige Pflege von Textilien kann die Lebensdauer von 3,3 auf 4,5 Jahre erhöht werden. Übertragen auf die amerikanische Textilabfall-Menge könnten somit jährlich 1,22 Millionen Tonnen Abfall gespart werden.
“The collection is not for sale. Instead, each look is merely meant to inspire. In a way it is meant to trick people, as if this is a brand but then really it has everything and you need to do it yourself!”
Alicia Minaard
New Blue Circular Denim
New Blue - ein neues Circular Denim Material von Tim van der Loo & Sandra Nicoline Nielsen
Kaufen, tragen, wegwerfen – das ist es, was mit den meisten Kleidungsstücken passiert. Genau dort setzt das Prinzip der Kreislaufwirtschaft an: Getragene Kleidung kann viel mehr sein als Abfall und ein Teil neuer und kontinuierlicher Materialflüsse werden.
Was 2018 als Projekt für eine Masterarbeit an der Weißensee Academy of Art in Berlin begann, wird derzeit von Re-FREAM unterstützt, einem Teil der STARTS-Initiative (Science + Technology + Arts) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 der Europäischen Kommission.
„New Blue explores new pathways in circular economy, aesthetics and production. Denim is a ubiquitous material which is loved and used by many. It is also a significant source of waste. The challenge as we see it is to find a way to recirculate old worn out jeans and left over fibers within the system.“
Denim galt immer als besonders langlebiges Material – bis es seine Integrität durch die zunehmende Globalisierung und den schnellen Konsum verloren hat. Mit New Blue, dem neuen zirkulären Denim, möchten der Material- und Produktdesigner Tim van der Loo und die Techno-Anthropologin Sandra Nicoline Nielsen dies ändern. In ihrem Verfahren werden Jeans als Rohstoff in kleine Fasern geschnitten und dann zu einem Vlies verbunden. Mit einer neuen Technologie der digital unterstützen Industriestickerei wird direkt auf dem Vlies das Schnittmuster angefertigt. Durch eine neuartige Möglichkeit bleiben die durch die Stickerei definierten Bereiche beim Waschen des Vlieses intakt, während sich die nicht bestickten Teile des Vlieses bei Kontakt mit Wasser auflösen und schließlich wieder als Rohstoff verwendet werden können. So wird durch New Blue eine kreislauffähige und abfallfreie Produktion von Denim zur Realität.
Enschede Textielstad von Annemieke Koster
Enschede Textielstad von Annemieke Koster
Bis in die 1970er Jahre gehörte Enschede in den Niederlanden neben Manchester zu den europäischen Textilhochburgen. Dann verschwand die textile Produktion immer mehr aus dem Stadtbild, weil es wesentlich günstiger war, Kleidung und Textilien in Niedriglohnländern herzustellen. Nachvollziehbarkeit, Schutz der Arbeiter:innen und Nachhaltigkeit bleiben dabei jedoch oft auf der Strecke – daher entstand Enschede Textielstad aus Annemieke Kosters Wunsch heraus, die Transparenz entlang der textilen Wertschöpfungskette zurückzubringen und die einstige Tradition der Stadt wieder aufleben zu lassen.
„I want to bring textiles back to Enschede and make it a city of textiles again – where professionals who still know the craftsmanship of yesteryear pull their knowledge and find innovative approaches. But then in a new, innovative collaboration.“
Lokal, natürlich, qualitativ hochwertig: In der Industrieweberei Enschede Textielstad entstehen natürliche und möglichst lokal produzierte Garne und Stoffe für Mode und Heimtextilien. Die Basis dafür bilden faire und umweltschonende Rohstoffe, die ausschließlich von bekannten Lieferanten bezogen werden: garantiert Made in Europe – für kurze Transportwege und einen geringeren ökologischen Fußabdruck. Das Angebot von Enschede Textielstad gibt diverse Optionen: Readymade Stoffe sind bereits produzierte Bestseller zum Direktkauf, Made To Order Stoffe sind gewebt, können aber individualisiert werden, oder Custom Made Stoffe für besonders individuelle Ideen, neue Stoffe oder zum Recycling von Produktabfällen – so ist für alle etwas Passendes dabei.
Chiengora instead of Angora
Yarnsustain von Ann Cathrin Schönrock & Franziska Uhl
Oft werden Möglichkeiten für ethische und nachhaltige Lösungen nicht genutzt, obwohl sie eigentlich auf der Hand liegen. Fashion- und Knitwear-Designerin Ann Cathrin Schönrock und Textilingenieurin Franziska Uhl haben auf dem Markt für Garne vergeblich nach nachhaltigen und gleichzeitig hochwertigen Optionen gesucht und sind deshalb selbst kreativ geworden: Sie gründeten das Unternehmen Yarnsustain, um mit Garnen und Stoffen aus Hundehaar die Mode- und Textilbranche zu revolutionieren.
Schon 2017 hat Ann Cathrin Schönrock, die selbst Hundebesitzerin ist, angefangen, mit der Wolle ihres Hundes zu arbeiten – denn warum sollte dieses eigentlich als Abfall angesehene Material nicht auch für Kleidung oder zum Füllen von Heimtextilien genutzt werden? Gemeinsam mit ihrer Mitgründerin Franziska Uhl entwickelte sie das hochwertige Chiengora®, ein Garn, das aus der Unterwolle langhaariger Hunde besteht. Gefördert von der deutschen Regierung konnte die Organisation alleine in diesem Jahr mehr als zwei Tonnen Unterwolle sammeln und zu Garn verarbeiten.
Hinter dem Unternehmen stehen die NGO Saving Lost Resources e.V., Yarnsustain und das Markenunternehmen modus intarsia. In diesem Dreiklang leisten die Gründerinnen einen Beitrag zum Tierschutz, produzieren hochwertige Garne und verkaufen Kleidungsstücke aus Hundehaar – um so die Akzeptanz von Konsument:innen weiter zu fördern und Kleidungsstücke aus Hundehaar auf dem Markt zu etablieren.
Key Conversations: Über das Potenzial recycelter Materialien
Wir haben Sarmite Polakova zum ersten Mal 2018 getroffen, als die lettische Designerin ihre Entwicklung „PineSkins“ im KEYHOUSE der MUNICH FABRIC START präsentierte. Als Teil des Forums für nachhaltige Innovationen präsentierte Sie ihre Kollektion aus Kiefernrinden. Ihre Produkte mit der ungewöhnlichen Ästhetik brachen schon damals mit den Stereotypen traditioneller Rindenprodukte. Sarmite untersucht weiterhin unkonventionelle Ansätze zur Entwicklung von textilen Materialien und Produktlösungen. Ihre Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf die Umwandlung unscheinbarer, natürlicher Materialien in Materialien mit einem neuen Zweck. So fokussiert sie die neueste Arbeit von Studio Sarmite auf die Entwicklung hochwertiger Systeme für Textilrecycling.
Unser Kurator für Sustainable Innovations Simon Angel hat mit Sarmite Polakova über ihr neustes Projekt gesprochen. Sehen Sie sich das Videointerview im Zuge der „Key Conversations“ am Ende des Interviews an.
Sarmite, wie hat sich dein Projekt PineSkins entwickelt seit du 2018 in unserem KEYHOUSE ausgestellt hast?
Ich habe so gute Erinnerungen an das KEYHOUSE 2018! Ich habe damals so viel Interesse, zahlreiche Anfragen und gutes Feedback zu PineSkins erhalten. Es hat mir wirklich geholfen, mein Netzwerk zu erweitern, Kooperationen zu starten und das zukünftige Potenzial eines Materials wie PineSkins in unserer Branche zu verstehen. Meine Arbeit daran führte mich auch dazu, weitere Untersuchungen zur Nutzung von Nebenprodukten aus der Holzindustrie zu entwickeln. Wie zum Beispiel die glasartige Komposition namens Pine Resin, die ich zu einer Vasenkollektion entwickelt habe. Mein Ziel war es, das Design zum Hauptträger der Erzählung werden zu lassen, die Grenzen dessen zu verschieben, was wir bei der Nutzung vorhandener natürlicher Ressourcen für möglich halten.
Natürlich sind wir auch am Beratungsprozess sehr interessiert – wie entwickelst du neue Projekte gemeinsam mit deinen Kunden?
Typischerweise beinhaltet eine Kooperation zu Beginn eine Beratung, um die richtigen Methoden zu finden, Prozesse zu optimieren und neue nachhaltige Materialien zu kreieren. Vor allem in den letzten Jahren habe ich mein Wissen und meine Erfahrung mit nachhaltigen Materialien, Produktionsmethoden und Geschäftspraktiken erweitert. Ich möchte mein Wissen teilen und suche daher nach Möglichkeiten, anderen Unternehmen bei der Umsetzung von Modellen und Praktiken der Kreislaufwirtschaft zu helfen. Dies ist die nächste Phase meiner Entwicklung als Materialentwicklerin und ich bin bereits in mehrere Kooperationen involviert. Auf diese Weise freue ich mich, mein Wissen zu teilen und zu sehen, wie sich dies in Zukunft weiterentwickeln wird!
Erzähl uns doch ein wenig von dem Projekt, an dem du derzeit mit Studio Sarmite arbeitest?
2020 habe ich mich mit meiner guten Freundin, der Designerin Mara Maizele, zusammengetan, da wir gemeinsam etwas gegen die riesige Menge an Textilabfällen tun wollen. Als wir das aktuelle Textilrecyclingsystem geprüft haben, konnten wir feststellen, dass es vor allem an hochwertigen Materialien aus recycelten Textilien mangelt. Post-Consumer-Textilfasern gelten, sofern sie nicht komplett neu versponnen werden, als minderwertiges Funktionsmaterial, das typischerweise für Polster, Füllungen und Isolierungen benutzt wird. Wir wollten diesen Status quo in Frage stellen und uns stattdessen auf die Qualitäten des Materials konzentrieren. Zum Beispiel könnte die Isolierfähigkeit ein erstaunliches Merkmal für Kleidungsstücke und Accessoires sein.
Durch Forschung und Experimente kombinierten wir Techniken aus der traditionellen Textilherstellung mit natürlichen Bindemitteln und kamen so nach vielen Versuchen zu einem marmorierten Biotextil, das wir heute „Pre-Loved Wool“ nennen. Das resultierende Material besitzt ein glattes, lederartiges Gefühl und kann in verschiedenen Stärken, Farb- und Musterkombinationen hergestellt werden. Es ist wasserabweisend, lässt sich nähen, kleben, falten und hat das Potenzial, als spannende Lederalternative für Kleidung und Accessoires genutzt zu werden.
Welchen Herausforderungen musstest du dich bei der Entwicklung dieses neuen Projekts stellen?
Während des Prozesses haben wir erfahren, dass die derzeitige Post-Consumer-Textilfaserindustrie sozusagen ziemlich geschlossen ist. Es richtet sich hauptsächlich an sehr große Unternehmen, die große Mengen an Fasern verkaufen, und dies oft nur in wenigen separaten Fasern pro Farbe. Es erforderte viel Recherche und Networking, um Unternehmen zu finden, die bereit waren, unser Projekt durch kleinere Mengen zu unterstützen – ein großes Danke geht hier an Inretex in Spanien, Altex in Deutschland und Eco Baltia in Lettland!
Es wurde auch klar, dass das derzeitige Textilrecyclingsystem mit den derzeitigen Recyclingpraktiken mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Billige Kleidung besteht oft aus Mischfasern – Baumwolle, Polyester, Elasthan, die in einem einzigen Faden vermischt sind. Solche Fasern zu trennen ist bereits schwierig und kann nur chemisch erfolgen. Textilrecyclingzentren hingegen können Altkleider oft nur bis auf eine Faser downcyclen und erzeugen dadurch einen noch größeren Fasermix, an dem es keinen Rückweg in Bezug auf die Fasertrennung gibt. So haben wir erkannt, dass wir die Faser einfach so akzeptieren sollten, wie sie ist – ein neuartiges Textil, das die Summe aller Einzelfasern ist. Es geht nicht mehr um die Exklusivität von Fasern, sondern um Inklusivität. Zusammen bilden sie eine neue Identität mit neuer Ästhetik und Nuancen.
Natürlich sind wir auch am Beratungsprozess sehr interessiert – wie entwickelst du neue Projekte gemeinsam mit deinen Kunden?
Typischerweise beinhaltet eine Kooperation zu Beginn eine Beratung, um die richtigen Methoden zu finden, Prozesse zu optimieren und neue nachhaltige Materialien zu kreieren. Vor allem in den letzten Jahren habe ich mein Wissen und meine Erfahrung mit nachhaltigen Materialien, Produktionsmethoden und Geschäftspraktiken erweitert. Ich möchte mein Wissen teilen und suche daher nach Möglichkeiten, anderen Unternehmen bei der Umsetzung von Modellen und Praktiken der Kreislaufwirtschaft zu helfen. Dies ist die nächste Phase meiner Entwicklung als Materialentwicklerin und ich bin bereits in mehrere Kooperationen involviert. Auf diese Weise freue ich mich, mein Wissen zu teilen und zu sehen, wie sich dies in Zukunft weiterentwickeln wird!
Eine letzte Frage noch: Mit wem möchtest du noch unbedingt zusammenarbeiten und warum?
Ein Unternehmen, das sich stark mit der eigenen Material- und Produktproduktion beschäftigt und das Nachhaltigkeit in den Vordergrund stellt. Viele fallen mir ein, aber definitiv etablierte Marken wie Adidas, Ikea und sogar Modemarken wie Max Mara oder Balenciaga. Ich würde gerne mit einer Modemarke zusammenarbeiten, die ihren Textilabfall in ein neues Pre-Loved-Produkt verwandeln möchte. Ich kann mir schon die einzigartigen Muster und Farbkombinationen vorstellen. Stellen Sie sich Pre-Loved-Chanel vor, wie großartig wäre das?
Wir danken Sarmite für ihre Einblicke und die Teilnahme an unserem Gespräch im Rahmen der Key Conversations mit unserem Kurator für Sustainable Innovations, Simon Angel. Wenn Sie sich für die hier genannten Projekte oder Prozesse von Sarmite Polakova interessieren, können Sie sie gerne hier kontaktieren: sarmite.polakova@gmail.com
Lassen Sie uns im Gespräch bleiben! Ist aus diesem Projekt eine Idee entstanden oder haben Sie Fragen? Wir freuen uns von Ihnen zu hören, senden Sie uns gerne eine E-Mail an info@munichfabricstart.com
Key Conversations mit Chandra Prakash: Experte & Berater zu nachhaltiger Produktion
Wenn man Chandra Prakash zum ersten Mal trifft und ihn fragt: „Was machen Sie?“, antwortet er ziemlich sicher „Nachhaltigkeitsberater“. Nach einem kurzen Gespräch mit ihm wird einem aber schon ganz klar, dass noch viel mehr dahintersteckt. Wenn er von seiner Erfahrung als Bio-Landwirt zur Erforschung und Entwicklung nachhaltiger landwirtschaftlicher Methoden, von der Herstellung von Naturfasern an der indisch-nepalischen Grenze oder von dem Zertifizierungsprozess von Naturfasern mittels Blockchain-Technologie erzählt, steht fest, dass „Nachhaltigkeitsberater“ nicht ganz den vollen Umfang, die Reichweite und die Weitläufigkeit seiner Arbeit auf den Punkt bringt. Daher versuchen wir mit diesem Interview tiefe Einblicke in seine neuesten Projekte, spannenden Herausforderungen und seine Leidenschaft für echte Nachhaltigkeit zu erhalten.
Kannst Du uns etwas über Deine Arbeit als Nachhaltigkeits-Fashionexperte erzählen?
Ich beschäftige mich intensiv mit nachhaltiger Mode und habe aus vielen Perspektiven wahnsinnig wertvolle Einblicke in die Lieferkette gewonnen; als Bio-Bauer, Textildesigner, Modedesigner und als Unternehmer, der als Inhaber und Gründer von Cocccon auf die Herstellung von gewaltfreier Seidenmode spezialisiert ist. Die Erstellung und Kenntnis von kurz- und langfristigen Nachhaltigkeits-Roadmaps sind meine Stärke als Nachhaltigkeitsberater.
Du forschst derzeit an anderen nachhaltigen Fasern und Produktionsmethoden – worauf fokussierst Du dich momentan genau?
Meine Forschung beschäftigt sich mit Naturfasern, insbesondere wie sie mit möglichst wenig Wasser und ohne Chemie angebaut werden können. Mein aktuelles Projekt zielt darauf ab, die nachhaltigste und luxuriöseste Leinen-, Kenaf- und Sisalfaserproduktion an der indisch-nepalischen Grenze aufzubauen.
Im Zuge der Videoserie Key Conversations hast Du mit Simon Angel gesprochen und Deine neueste Technologie zur Unterstützung des Zertifizierungsprozesses für Stoffe vorgestellt. Kannst Du uns mehr erzählen?
Die Herausforderungen, denen sich Zertifizierungsstellen gegenübersehen, wurden durch COVID-19 weiter verkompliziert. Die meisten Baumwollfelder liegen auf abgelegenem oder ländlichem Gelände, was bedeutet, dass es nicht möglich ist, das gesamte Land zu überwachen oder zu kontrollieren. Die Datenerhebung und -eingabe erfolgt weiterhin auf Vertrauensbasis, ohne Methoden zur gegenseitigen Überprüfung. Im derzeitigen System ist es nicht möglich, die Materialien in den Vorfaserstufen zu authentifizieren, wie z. B. die landwirtschaftlichen Prozesse zum Anbau von Fasern wie Baumwolle, Leinen usw. Der Mangel an physischen Besuchen aufgrund von COVID-19 hat zu einem Anstieg von Greenwashing geführt.
Die Technologie, die ich derzeit entwickle, kann sicherstellen, dass Auditing einfach, sicher und viel zuverlässiger wird. Auch in der Landwirtschaft können Daten erhoben werden. Um die Authentifizierung zu gewährleisten, wird die Überwachung in drei verschiedenen Phasen durchgeführt. Zusammen wird der Einsatz von KI-Technologie, Blockchain-Technologie und einem intelligenten physischen Auditing-System den Zertifizierungsprozess eines Bio-Produkts sicher machen.
Sehen Sie sich hier die Key Conversation zwischen Chandra Prakash und Simon Angel an.
Kannst Du uns von der größten Herausforderung bei der Entwicklung dieses neuen digitalen Systems erzählen?
Dies ist ein sehr ehrgeiziges Projekt. Die Rückverfolgbarkeit auf der Rohstoffstufe ist momentan so gut wie unmöglich. Ich nehme es als Herausforderung und versuche alles, es zu realisieren. Es ist immer eine Challenge, verschiedene Arten und Ebenen von Technologie zu verbinden. Sagen wir einfach, wir arbeiten daran! Wir werden mit Partnern aus der Modebranche zusammenarbeiten müssen, darunter Rohstoff- und Blockchain-Experten sowie wichtige Investoren. Zur Verstärkung suchen wir aktuell einen CFO.
Wie wichtig ist es für Marken, ihren Kunden Transparenz und Rückverfolgbarkeit zu bieten – durch die Einführung der Blockchain-Technologie?
Die Zahl der Menschen, die bereit sind, authentisch nachhaltige Mode oder Accessoires zu kaufen, ist drastisch gestiegen. Die jungen Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder, die weltweit bei Fridays for Future und Klimastreiks protestieren, sind unsere zukünftigen Kunden. Sie wollen wissen, wer die Kleidung herstellt, die sie tragen. Sie wollen wissen, ob alle in der Lieferkette gut behandelt wurden. Sie wollen wissen, ob ihr Bio-T-Shirt wirklich ein Bio-T-Shirt ist. Rückverfolgbarkeit wird bald die neue Normalität sein. Unsere KI- und maschinelle Lerntechnologie kann jedem helfen, von Marken bis hin zu Endverbrauchern. Die Verwendung von Blockchain kann sicherstellen, dass Zertifizierungen zuverlässig und authentisch sind.
Deutschland hat ein neues Lieferkettengesetz mit verstärktem Fokus auf Menschenrechte eingeführt. Kann Deine Technologie helfen, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden?
Die aktuellen Gesetze haben nur begrenzte Möglichkeiten, soziale oder menschliche Faktoren während der Produktion von Rohstoffen zu kontrollieren. Es gibt außerdem Challenges bei der Kontrolle von Zwangs- oder Kinderarbeitern beim Baumwoll- und Flachs-Leinen-Anbau. 80% der Baumwollbauern, die in Entwicklungsländern arbeiten, stammen aus lokalen Stammesgemeinschaften und haben keine staatlich anerkannten Ausweise. Auf dem Papier existieren sie nicht, daher werden die Gesetze nicht auf sie angewendet. Unsere IoT-basierte Technologie kann Landwirten und Marken helfen, diese Herausforderungen zu überwinden. Dies macht unsere Technologie zu einer Plattform für Echtzeit-Rückverfolgbarkeit vom Bauern bis zum fertigen Kleidungsstück in den Läden.
Wir bedanken uns bei Chandra für seine Einblicke und das Gespräch im Rahmen der Key Conversation Reihe mit dem Kurator unserer Sustainable Innovations, Simon Angel. Wenn Sie sich für die Themen interessieren, die Chandra Prakash hier besprochen hat, oder wenn Sie herausfinden möchten, wie Sie seine Arbeit unterstützen können, können Sie ihn hier gerne kontaktieren: prakash@cocccon.de
Lassen Sie uns im Gespräch bleiben! Hat dieses Projekt Sie auf eine Idee gebracht oder haben Sie Fragen? Wir würden gerne von Ihnen hören, schicken Sie uns eine E-Mail an info@munichfabricstart.com