Trendanalyst Carl Tillessen beobachtet nicht nur; er antizipiert. Als Mitglied der Geschäftsführung und Chefanalyst des Deutschen Modeinstituts kennt er die Textil- und Modebranche bis ins kleinste Detail. Hier verrät er, welche Umbrüche und Trendwenden uns bevorstehen.
Wie können Sie absehen, welche Trends sich entwickeln werden? Welche Rolle spielt Kultur, spielen aktuelle Ereignisse?
Als Teil eines Zusammenschlusses der wichtigsten Trendinstitutionen der Welt legt DMI die Key Directions einer Saison immer bereits zweieinhalb Jahre im Voraus fest. Um so weit nach vorne zu denken, reicht es nicht aus, den Leuten etwas als Trend zu verkaufen, das in Mailand, Paris und New York bereits sichtbar ist. Man muss Trends erkennen, bevor sie sichtbar werden. Lassen sie mich das so erklären: Ein schlechter und ein guter Trendanalyst gehen in eine Bar. Sie sehen, dass die Gäste Salzgebäck knabbern. Der schlechte Trendanalyst sagt: ‚Die Leute essen Salzgebäck. Wir brauchen Salzgebäck.‘ Der gute Trendanalyst sagt: ‚Die Leute werden bald Durst bekommen. Wir brauchen Getränke.‘
Wird gerade wieder mehr konsumiert? Falls ja, weshalb? Spielt Kompensation (z.B. für die verlorene Zeit in den Pandemiejahren) eine Rolle?
Ja und nein: Nein, es wird gerade wenig konsumiert. Ja, Kompensation spielt dabei eine große Rolle. Vor der Pandemie hatten die Menschen zunehmend Geld für Erlebnisse ausgegeben und weniger für Dinge. Dann kam die Pandemie, und viele Erlebnisse waren nicht möglich oder nicht erlaubt. Also hat man wieder mehr Geld für Dinge ausgegeben. Entsprechend waren die Einzelhandelsumsätze in den letzten zwei Jahren deutlich höher als vor Corona. Jetzt versuchen die Menschen in einem Sommer alles nachzuholen, was in den letzten zwei Sommern ausgefallen ist – Reisen, Hochzeiten, Festivals, Konzerte … Das kostet viel Geld. Und dieses Geld fehlt im Shoppingbudget.
Carl Tillessen
Welche Prognose würden Sie angesichts der sehr gegensätzlichen Entwicklungen – Nachhaltigkeit und Minimalismus einerseits, Hedonismus und Ausdruck durch Konsum andererseits – für die nächsten Jahre abgeben?
Die Pandemie hat unsere Gesellschaft auch in dieser Hinsicht polarisiert. Während die Mehrheit der Leute einfach nur ihr altes Leben zurückhaben und genau da weitermachen wollte, wo sie aufgehört hatte, zeigte sich schon nach wenigen Wochen, dass die wirkmächtige kulturelle Elite das Zuhausefestsitzen und Schrankausmisten zum Anlass nahm, ihren Überkonsum zu überdenken und den Vorsatz zu fassen, nach der Pandemie genügsamer zu leben. Dieser Gedanke des Konsumverzichts ist jetzt in der Welt, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er Mainstream wird.
Welche Herausforderungen und Chancen stehen der Branche bevor?
Bisher haben Modeunternehmen die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit mit einer nachhaltigeren Qualität ihrer Produkte beantworten können. Sie ersetzten zum Beispiel Baumwolle durch Bio-Baumwolle, und die Kunden kauften einfach dasselbe in Grün. Doch nun stellen die Kunden zusätzlich die Quantitäten in Frage. Es geht immer weniger darum, was sie kaufen wollen, sondern vielmehr darum, wie viel sie kaufen wollen. Sich dieser neuen Situation anzupassen, darin liegt derzeit die große Herausforderung und Chance für die Branche.
Unterscheiden sich Ihre Trendanalysen für die verschiedenen Preissegmente?
Ja, auch. Aber durch den hybriden Konsum der Menschen verliert das immer mehr an Bedeutung. Luxusmode wird zunehmend von Menschen gekauft, die sie sich eigentlich gar nicht leisten können, und Billigmode auch von Menschen, die es eigentlich gar nicht nötig haben. Insofern werden Kaufentscheidungen viel weniger davon bestimmt, wieviel jemand verdient, als davon, in welcher Stilwelt er leben will.
Welche langfristigen Veränderungen sehen Sie in den nächsten Jahren?
Wir stehen tatsächlich gerade am Ende eines Makrotrends und am Anfang eines neuen. Es geht um mehr als nur eine modische Variante. Es geht um einen neuen Stil, eine neue Musikrichtung, ein neues Lebensgefühl. Die Zwanziger Jahre nehmen Gestalt an. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
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